„Paperbomb“ in Oradour-sur-Glane – Eine Skulptur der Erinnerung zwischen Ruinen und Hoffnung
Von Schmerz gezeichnet, von Zukunft getragen: Ein neues Mahnmal für Europa im Geist der deutsch-französischen Freundschaft
Oradour-sur-Glane, 10. Juni 2025 – Es war ein Tag der Stille, der Erinnerung, aber auch ein Tag der Zeichen: Am Jahrestag eines der schlimmsten NS-Kriegsverbrechen auf französischem Boden wurde in Oradour-sur-Glane die vierte und letzte Skulptur der Reihe Paperbomb von der deutsch-italienischen Künstlerin Nessi Nezilla feierlich enthüllt. Die Zeremonie fand im Rahmen der offiziellen Gedenkveranstaltung zum 81. Jahrestag des Massakers von Oradour-sur-Glane statt – in unmittelbarer Nähe der Ruinen des zerstörten Dorfs, die seit 1944 als Mahnmal bewahrt werden.
Ein Ort des Schmerzes – und des Gewissens Europas
Am 10. Juni 1944 verübte die SS-Division „Das Reich“ in Oradour-sur-Glane ein Massaker, das in seiner Grausamkeit und Willkür zum Symbol der deutschen Besatzung und ihrer verbrecherischen Gewalt gegen Zivilisten wurde. Innerhalb weniger Stunden ermordeten die SS-Männer 643 Menschen – Männer, Frauen, Kinder. Die Männer wurden erschossen, die Frauen und Kinder in der Kirche eingesperrt und bei lebendigem Leib verbrannt. Nur wenige überlebten.
Anders als an vielen anderen Orten wurde das Dorf nach Kriegsende nicht wiederaufgebaut, sondern bewusst in seinem zerstörten Zustand belassen. Charles de Gaulle entschied persönlich, dass Oradour als „Village Martyr“ erhalten bleiben solle – als offenes Mahnmal, das künftigen Generationen den Schrecken des Krieges sichtbar vor Augen führt.
Heute ist das zerstörte Oradour ein internationaler Erinnerungsort – ein Ort der Geschichte, aber auch der schwierigen Versöhnung. In diesen Kontext fügt sich nun ein neues Element: die Skulptur Paperbomb, die bewusst vor den Ruinen platziert wurde, nicht als Kontrast, sondern als zeitgenössischer Kommentar zur Vergangenheit – und als Einladung zum Nachdenken über Gegenwart und Zukunft.
Die Gemeinde hatte hierfür extra von den Familien der Opfer dieses Jahr noch einige kleinere Grundstücke gekauft, und dort die Skulptur platzieren zu können.
Dass nun gerade eine deutsche Künstlerin in Oradour-sur-Glane ausstellen darf, ist weit mehr als ein kulturelles Ereignis. Es ist ein Zeichen. Jahrzehntelang war es kaum vorstellbar, dass Deutsche hier mehr tun als schweigen. Erst seit einigen Jahren finden offizielle Begegnungen statt – 2013 sprach erstmals ein deutscher Bundespräsident in Oradour. Nun geht die Erinnerung einen Schritt weiter: Ein deutsches Kunstwerk wird Teil des Gedenkens.
Ein Kunstwerk, das Brücken baut
Die Skulptur Paperbomb ist ein Werk der Kontraste: gefertigt aus gegossenem Aluminium, erinnert sie von ihrer Idee her an einen Origami-Kranich – ein universelles Friedenssymbol, inspiriert von der japanischen Hiroshima-Überlebenden Sadako Sasaki. Doch anders als die zarten Papierkraniche, ist dieses Objekt massiv, schwer, beständig. Die Künstlerin Nessi Nezilla überträgt die Leichtigkeit der Symbolik in ein neues, widerständiges Material – Aluminium –, das in der Glut von Zerstörung entstand, aber hier zu einem Objekt des Erinnerns geformt wurde.
„Die Skulptur will nicht dominieren, nicht verdrängen, nicht vergessen machen“, so Nezilla, „sie will erinnern, sichtbar machen, im Jetzt verankern.“ Die Nähe zur Ruinenlandschaft sei bewusst gewählt: ein Dialog zwischen dem stummen Zeugnis der Vergangenheit und einer neuen Form der Erinnerung, die Zukunft ermöglichen will.
Ein Tag voller Begegnungen
Die Enthüllung war eingebettet in ein ganztägiges Gedenkprogramm mit Überlebenden, Angehörigen, offiziellen Delegationen und der lokalen Bevölkerung. Neben der künstlerischen Zeremonie wurden auch Reden gehalten, Kränze niedergelegt und Erinnerungen geteilt.
Ein weiteres Symbol der deutsch-französischen Verbundenheit war die Pflanzung zweier Bäume, initiiert durch den Bildhauer Thilo Mössle. Die jungen Bäume, deren genetisches Erbgut französische und deutsche Sorten vereint, sollen in Zukunft Schatten spenden – als lebendiges Zeichen für das Wachsen von Freundschaft und Versöhnung.
Erinnern als europäische Aufgabe
Die Aufstellung der Skulptur Paperbomb in Oradour-sur-Glane ist ein Meilenstein der zivilgesellschaftlichen und kulturellen Erinnerungskultur. Sie zeigt, dass Erinnerung nicht nur Sache der Politik ist, sondern durch Kunst, Dialog und persönliche Begegnungen weitergetragen wird.
Dass eine deutsche Künstlerin nun Teil dieses Erinnerungsortes ist, bedeutet nicht, dass Schuld vergessen ist. Es bedeutet, dass Verantwortung angenommen wurde – und in neue Formen gegossen werden kann. In Oradour, dem Ort des unaussprechlichen Leids, wird so ein neues Kapitel geschrieben: Eines des Erinnerns, das in die Zukunft weist.
An den Feierlichkeiten nahmen neben den Opfer, Familien und örtlichen Vertretern sehr viele hochrangige, internationale und nationale Gäste teil, darunter beispielsweise Mme Patricia MIRALLES, beigeordnete Ministerin im Ministerium der Streitkräfte, zuständig für Erinnerungskultur und Veteranen, die auch die Schirmherrschaft inne hatte.
Honorarkonsul Folker R. Zöller, der Vertretung von Salon – Präsident Helmut Augustin im Namen des Salon Diplomatique Mannheim sprach, brachte zum Ausdruck, dass die Paperbomb kein Versöhnungssymbol im klassischen Sinne sei, sondern ein „Denkzeichen zwischen Schmerz und Hoffnung“.
Zöller erinnerte in seiner Rede an die Ursprünge der Paperbomb-Reihe, an die Begegnung mit französischen Erinnerungsvereinen wie dem Comité des Martyrs de Tulle, und an die Stationen des Kunstwerks: Tulle, Hartmannswillerkopf, Mannheim – und nun, als finaler Ort: Oradour-sur-Glane.
Besonders bewegend waren die persönlichen Erinnerungen, die Zöller mit dem Publikum teilte: die Geschichten von Alain, dessen Vater in Tulle erhängt wurde und der sich heute in ganz besonderem Maße für die deutsch-französische Freundschaft einsetzt, aber auch der zum Ausdruck gebrachte Gedanke, dass aus der Paperbomb keine Versöhnung im klassischen Sinn spricht, sondern eine Mahnung, ein „Denkzeichen“ – zwischen Schmerz und Hoffnung.
Ein kollektives Projekt – ein europäischer Gedanke
Die Skulptur in Oradour ist Teil eines größeren Projekts, getragen vom Salon Diplomatique Mannheim, gefördert durch bürgerschaftliches Engagement . Die Paperbomb-Serie wurde 2024 auch in symbolischer Form international sichtbar: In einer Geste der Freundschaft übergab Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron eine 50 cm große Miniatur der Skulptur.
Zöller zitierte in seiner Rede einen französischen Freund, der sagte: „Es seid heute ihr Deutschen, die die Erinnerung wachhalten – während in Frankreich manches schon vergessen scheint.“ Ein Satz, der ebenso tröstlich wie alarmierend wirkt – und den tieferen Sinn dieser Skulptur greifbar macht: Erinnerung als gemeinsame europäische Verantwortung.
Zeichen des Friedens: Die gepflanzten Bäume
Im Rahmen des Projekts wurden auf Initiative des Salon Diplomatique auch symbolisch zwei junge Bäume gepflanzt, gezüchtet von Thilo Mössle, der deutsches und französisches Pflanzenerbgut vereinte – als lebendiges Zeichen für die Verbindung beider Länder. Ein stiller, aber bedeutungsvoller Beitrag zur Idee: dass aus Unterschiedlichem Neues wachsen
Ein Tag der Gedenkfeierlichkeiten
Die Enthüllung der Paperbomb war Teil eines ganztägigen Gedenkprogramms, das an verschiedenen Orten in Oradour-sur-Glane stattfand. Offizielle Reden, Begegnungen mit Angehörigen der Opfer, musikalische Beiträge und stille Momente des Erinnerns prägten diesen Tag. Die Skulptur fand dabei ihren Platz nicht nur physisch vor den Ruinen – sondern auch symbolisch im Herzen der gesamten Veranstaltung.
„Erinnerung ist kein Schlussstrich – sondern ein Anfang“
Die Paperbomb steht nun vor den Ruinen von Oradour. Nicht als Dekoration. Nicht als touristisches Objekt. Sondern als bewusste Setzung: Ein Mahnmal für die Gegenwart, entstanden aus der Vergangenheit. Ein Kunstwerk, das die Stille des Orts nicht stört, sondern sie aufnimmt – in neuer Sprache, mit neuer Form, aber im gleichen Geist.
Und vielleicht ist das ihre größte Kraft: Dass sie nicht nur zurückblickt, sondern einlädt, nach vorne zu denken. Denn, wie Zöller abschließend sagte:
„Erinnerung ist nicht Rückblick – sondern Verantwortung. Sie darf nicht lähmen – sondern muss ermutigen. Sie ist kein Schlussstrich – sondern ein Anfang.“